Philosophische Praxis:
Eine Reise zum Ursprung

Weisheit, Wissenschaft, Prinzipien und Ursachen, das Seiende, insofern es seiend ist, das Wesen? Was hat das alles zu bedeuten? Diese – zugegeben etwas verstreute – von Aristoteles stammende Definition von Philosophie ist ungefähr 2500 Jahre alt und hat nichts von ihrer Gültigkeit und Aktualität verloren: Philosophie ist die Wissenschaft von den ersten Prinzipien und Ursachen, die nach dem Wesen einer Sache fragt. (Natürlich wäre Philosophie nicht Philosophie – und Philosophen nicht Philosophen –, wenn es sich hierbei nicht um eine von vielen möglichen Definitionen, sondern bloß um ein ‚Drei-Pfeifen-Problem‘ handeln würde.)

Leider haftet ihr auch – nicht ganz zu Unrecht – der Ruf der ‚Kopflastigkeit‘ an, wozu nicht zuletzt die bevorzugte, mitunter selbstverliebte Beschäftigung mit akademisch-theoretischen Perspektiven und die damit oft einhergehende schwere Verständlichkeit philosophischer Texte beiträgt, was nur zu leicht aus einer praktischen Frage eine rein theoretische Angelegenheit machen kann.

Deshalb hat es oft den Anschein, als ob mit der praktischen Relevanz philosophischer Texte auch ihre Unverständlichkeit steigt. So ist beispielsweise die Einsicht in die Bedeutung von Immanuel Kants praktischer Philosophie eine Sache, bei der Lektüre auch Spaß zu haben, eine andere. (Natürlich ist es berechtigt zu sagen, es gehe dabei bloß um eine Theorie der Praxis, die einer gewissen Abstraktheit und Ernsthaftigkeit bedarf, aber dieses Argument löst die Herausforderungen des praktischen Lebensvollzuges nicht.)

Auf der anderen Seite muss sich Philosophie – völlig zu Unrecht – den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit gefallen lassen. Gerade ihr eigenes Wesen, nämlich die Tatsache, dass sie nicht um der Resultate willen betrieben wird und dass ihr Untersuchungsgegenstand das Allgemeinste ist, wird ihr zum Verhängnis, wenn diese Eigenschaften als Verantwortungslosigkeit und Weltflucht interpretiert werden. Sie wird dann entweder nicht ernst genommen (obwohl sie doch oft so ernst daherkommt) oder mit Esoterik verwechselt.

Während das Bild vom weltfremden zerstreuten Gelehrten kultiviert wurde, hat die ‚Sach- und Selbsthilfeliteratur‘ der Philosophie scheinbar den Rang abgelaufen, zumindest was ihre Kommunikationsfähigkeit mit dem Leser und die Befriedigung pragmatisch-praktischer Bedürfnisse angeht. Ratgeberliteratur kann natürlich das Wissen über konkrete Themen vermehren, aber das garantiert noch keine Lösung, die sich auch im individuellen Alltag bewährt, der sehr oft die ‚Ausnahme einer Regel‘ darstellt.

Muss zum begrifflichen Verständnis nicht auch eine Art emotionale Einsicht hinzukommen? Ermöglicht nicht erst das emotionale Berührtwerden durch Literatur egal welcher Art eine wirkungsvolle persönliche Veränderung und Entwicklung, weil sie dann auch vom Wesen des einzelnen Menschen getragen wird bzw. seiner eigenen Denkweise und Philosophie entspricht, die es mitunter erst zu entdecken – bewusst zu machen – gilt?

Handelt es sich bei einer Philosophischen Praxis um ‚Lebens- und Sozialberatung‘ bzw. (Psycho)therapie?
Definitiv nicht.

‚Philosophische Praxis‘ – diese Bezeichnung geht auf Gerd B. Achenbach zurück, der die weltweit erste derartige Einrichtung 1981 in Deutschland gegründet hat – ist zwar ein professionelles Gesprächsangebot im Rahmen angewandter Philosophie, aber keine psychologische Beratung und Begleitung bzw. (psycho)therapeutische Behandlung in Problemsituationen.  1 

1) Zur Gegenüberstellung von Philosophischer Praxis und (Psycho)therapie siehe Eckart Ruschmann: Philosophische Beratung. (Stuttgart:) Kohlhammer (1999). S. 19-32. Und die erste deutschsprachige Dissertation zur Philosophischen Praxis, nämlich Patrick Neubauer: Schicksal und Charakter. Lebensberatung in der ‚Philosophischen Praxis‘. (Hamburg:) Verlag Dr. Kovac (2000). (= Boethiana. Forschungsergebnisse zur Philosophie. Bd. 46.) (Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2000). S. 19-30 u. 125-147. Auch Maren Fischer-Epe: Coaching: Miteinander Ziele erreichen. Eingeleitet von Friedemann Schulz von Thun. (Reinbek bei Hamburg:) Rowohlt Taschenbuch Verlag (2002). S. 180f.: „Therapie ist nach meinem Verständnis die Behandlung von Krankheiten. Ziel von Therapie ist Gesundheit und die Befreiung von Symptomen mit Krankheitswert. Beratung (Coaching, Supervision, Klärungshilfe) versucht dagegen Klärungen und Lösungen zu finden für punktuell schwierige Situationen. Die angewandten Interventionsmethoden und Vorgehensweisen können ähnlich sein, zumal die meisten Beratungsmethoden im klinisch-therapeutischen Feld entwickelt wurden und werden.“

In einer Philosophischen Praxis geht es vielmehr darum, nach den ersten Prinzipien und Ursachen sowie dem Wesen persönlicher Herausforderungen zu fragen, und so gemeinsam mit KundInnen  2 
2) Menschen, die einen Philosophischen Praktiker aufsuchen, sind weder Patienten noch Klienten noch Besucher, sondern Kunden, d. h., Menschen, die kundig sind und selbstverantwortlich von sich Kunde geben können. KundInnen einer Philosophischen Praxis sind deshalb „[...] auch fähig, den Arbeitsvertrag mit dem Philosophischen Praktiker nach eigener Einschätzung zu ‚kündigen‘.“ (Hervorh. im Orig.) Ich folge hier der 9. von 27 Vorannahmen zur Philosophischen Praxis von Thomas Stölzel, der seinerseits im ersten Punkt auf Otto Brink Bezug nimmt. Siehe Thomas Stölzel: Wie ich die Philosophische Praxis verstehe (27 Vorannahmen). 2. Fassung. (Dezember 2001). Online im WWW hier [Stand: 20.07.2005]. Zudem haben mich Stölzels Ausführungen wesentlich zu den hier vorgetragenen eigenen Ideen inspiriert.
für individuelle Lebensfragen einzigartige Antworten mithilfe von bereits Gedachtem und Geschriebenem zu finden. Hier gilt wohl am ehesten Immanuel Kants Rede vom ‚philosophieren lernen‘.

Die Entwicklung einer philosophischen Lebenseinstellung ist dabei nicht nur eine Angelegenheit des Verstandes, sondern auch, wie bereits erwähnt, des Herzens. Schon bestehende philosophische Gedanken für sich entdecken heißt sein eigenes Wesen entdecken.

„Es ist also klar, daß die Weisheit eine Wissenschaft von gewissen Prinzipien und Ursachen ist. Da wir nun diese Wissenschaft suchen, muß man überlegen, mit welchen Ursachen und Prinzipien sich die Wissenschaft befaßt, die Weisheit ist. [...] Diese muß nämlich die ersten Prinzipien und Ursachen betrachten [...].“
(Aristoteles: Metaphysik)



„Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende, insofern es seiend ist, betrachtet und das, was ihm an sich zukommt.“
(ebd.)



„Und die Frage, die bereits von alters her erhoben wurde, die auch heute erhoben wird und immer erhoben werden und Gegenstand der Ratlosigkeit sein wird, was nämlich das Seiende sei, bedeutet nichts weiter als, was das Wesen sei [...].“
(ebd.)



„Wenn die Menschen jetzt, und wenn sie vor alters zu philosophieren begonnen haben, so bot den Antrieb dazu die Verwunderung, zuerst über die nächstliegenden Probleme, sodann im weiteren Fortgang so, daß man sich auch über die weiter zurückliegenden Probleme Bedenken machte [...].“ (ebd.)





„Philosophie ist oft nicht mehr als der Mut, in einen Irrgarten einzutreten. Wer aber dann auch
die Eingangspforte vergißt, kann leicht in den Ruf eines selbständigen Denkers kommen.“

(Karl Kraus)



 

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