Philosophie und Film

Sind Filme ein Unterhaltungsmedium? Ja, (hoffentlich). Machen sie nachdenklich? Ja, (möglicherweise). Müssen einander Unterhaltung und Nachdenken notwendigerweise ausschließen? Ist Unterhaltung gleich Ablenkung? Macht man sich verdächtig, wenn  einen der, wohlgemerkt, diskrete Charme der Bourgeoisie erfasst hat und man über einen Film nachdenkt, bei dem man sich auch unterhalten hat? Überinterpretiert man dann?  1 
1) Vgl. hierzu Stanley Cavells – fast aufklärerisch anmutenden – Appell: „Still, my experience is that most texts, like most lives, are underread, not overread. And the moral I urge is that this assessment be made the subject of arguments about particular texts.“ (Stanley Cavell: Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage. (9th printing) Cambridge, Massachusetts, and London, England: Harvard University Press (2001). S. 35.)
Und darf es nur einen einzigen wissenschaftlichen Interpretationsrahmen  2 
2) So interessant die Interpretation von Filmen aus Sicht der Psychoanalyse auch sein mag, sie ist bestimmt nicht die einzig mögliche Lesart, mit deren Hilfe sich die Bedeutung eines Filmes vollkommen erschließen lässt. Vgl. dazu z. B. Wilfried Beaumarçaux: Gedanken zum Kino-Film ›Nicht auflegen!‹ – Eine hinter Moralpredigt verborgene ödipale Onaniephantasie. In: System ubw. Zeitschrift für klassische Psychoanalyse 1 (2004). S. 15-28. Vgl. hierzu auch Cavells Plädoyer für offene Strukturen und Pluralität im universitären Bereich: „[...] they [sc. the universities] are unique among institutions in preserving the thought that nothing is the only game in town, or that if something is, then there are habitations outside the town where it is not.“ (Stanley Cavell: Film in the University. In: Pursuits of Happiness. S. 265-274; hier S. 274.)
für Film geben, der mitunter weniger erklärt als sich vielmehr selbst bestätigt? Was aber macht das Wesen des Mediums Film aus? Filme geben ihren Zusehern das Gefühl, sie hätten etwas mit ihnen zu tun, weil sie, bei aller möglichen Abstraktion von realen Lebenswelten, die äußere Welt – zumindest tendenziell – kausal widerspiegeln und die Nöte und Wünsche jeder Zeit reflektieren,  3 
3) Vgl. Birgit Recki: Am Anfang ist das Licht. Elemente einer Ästhetik des Kinos. In: Ludwig Nagl (Hrsg.): Filmästhetik. Berlin: Akad.-Verl. Wien: Oldenbourg 1999. (= Wiener Reihe. Bd. 10.) S. 35-60; hier S. 52.                     
und das nicht nur kollektiv, sondern auch individuell. Sie bieten außerdem die Möglichkeit, die Dinge aus sicherer Distanz im wörtlichen Sinne zu betrachten, weil sie eine Metabühne  4 
4) Vgl. ebd. S. 58: „Denn der ungesehene Betrachter kann sich in der Asymmetrie seines Schauens für die Dauer der Veranstaltung in der Illusion des privilegierten, des erhabenen, des göttlichen Blicks halten, wie sie in dieser Konsequenz und Intensität in keiner anderen Situation möglich ist. Auch der konzentrierte Betrachter eines Gemäldes, der Leser eines Romans kennt diese Intuition. Aber der Film hat mehr davon – und er hat es durch die optische Ausblendung des sehenden Subjekts in der Polarisierung von Licht und Dunkelheit. Daß ihm eine Welt vorgeführt wird, gewinnt erst durch die solitäre Situation im Schatten der Bilder seine methodische Glaubwürdigkeit. Denn alles Licht ist in den Bildern, deren Schatten alle Bedeutung trägt und in dem man selbst gleichsam verschwindet – aber in äußerster Lebhaftigkeit.“ 
errichten, auf der sich der Zuseher in der (Ent)spannung  5 
5) Vgl. ebd. S. 59.
von „unbeteiligtem Beteiligtsein“  6 
6) Ähnlich formuliert das auch Cavell, wenn er schreibt, dass Filme „[…] uns ermöglichen, die Welt ungesehen zu betrachten.“ (Stanley Cavell: Aus: Die Welt betrachtet. In: Ludwig Nagl (Hrsg.): Filmästhetik. Berlin: Akad.-Verl. Wien: Oldenbourg 1999. (= Wiener Reihe. Bd. 10.) S. 84-102; hier S. 102). Recki kennzeichnet diese Situation im Rekurs auf Cavell als „unausgesetzte[s] Schauen“ (Recki: Am Anfang ist das Licht. S. 57. Hervorh. im Orig.) und beschreibt den Kinogänger auch als „ungesehene[n] Zuschauer“ (ebd.). Kant spricht in § 2 der Kritik der Urteilskraft schließlich vom „interesselosen Wohlgefallen“. Diesen Bezug stellt auch Ludwig Nagl her; Ludwig Nagl: Einleitung: Denken und Kino. Das neue philosophische Interesse am Film. In: Ludwig Nagl (Hrsg.): Filmästhetik. Berlin: Akad.-Verl. Wien: Oldenbourg 1999. (= Wiener Reihe. Bd. 10.) S. 7-34; hier S. 12.
bald mit Handlungsalternativen und neuen Strategien auseinandersetzen, bald biographische Übereinstimmungen mit Filmfiguren erkennen kann. Ermöglicht diese Probesituation für neue Lösungsversuche nicht auch das indirekte Ansprechen von sehr intimen Themen und darüber hinaus das Üben der Achtsamkeit auf Nuancen des Alltags sowie privater und beruflicher Herausforderungen? Werden Filme dadurch zu Orten der Reflexion bzw. des (Nach)denkens?  7 
7) Vgl. hierzu Cavells Definition des ‚Lesens‘ von Filmen: „Then I would like to say that what I am doing in reading a film is performing it (if you wish, performing it inside myself).“ (Cavell: Pursuits of Happiness. S. 37f.) Das Lesen ganzer Filme bedeutet dementsprechend, sich nicht auf einzelne Aspekte wie z. B. Filmstile oder Filmmusik zu konzentrieren (vgl. Nagl: Einleitung: Denken und Kino. S. 10. Anm.).
  

Vanilla Coke, die Bronx und Machiavelli

Der Schauspieler Chazz Palminteri (bürgerlicher Name: Calogero Lorenzo Palminteri), Darsteller des ‚capo di tutti capi‘
8) Italienisch für: ‚der Boss aller Bosse‘ (siehe: Reine Nervensache, 1999 – ebenfalls mit Chazz Palminteri und Robert De Niro).
Don Vanillo in dem Werbespot für Vanilla Coke (‚Belohn’ deine Neugier!‘), in dem er seine Rolle als Gangster (‚wise guy‘) in diversen Mafia-Filmen gekonnt parodiert, schrieb 1988 das Einpersonenstück A Bronx Tale.  9 
9) Ich frage mich, warum Gangster ausgerechnet ‚wise guys‘ heißen müssen und denke dabei unwillkürlich lachend an den Schauspieler Joe Pesci, der für seine Darstellung des Tommy DeVito in GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia (Regie: Martin Scorsese) 1990 den Nebenrollen-Oscar gewonnen hat und in dem 1998 entstandenen Musikvideo singender- oder vielmehr rappenderweise den ‚wise guy‘ zu dem gleichnamigen Musikstück markiert. Joe Pesci spielte außerdem Carmine in der Verfilmung von A Bronx Tale.
Palminteri verarbeitete in diesem autobiographischen Theaterstück seine eigene Kindheit in New Yorks Bronx.

Im Jahr 1993 verfilmte der Schauspieler Robert De Niro in den USA dieses Stück unter dem gleichnamigen Titel (deutsch: In den Straßen der Bronx, 1994) und gab damit sein Regiedebüt. De Niro selbst spielt in diesem Film Lorenzo Anello, der verhindern will, dass sein Sohn Calogero, genannt ‚C‘, den Einflüssen des Gangsterbosses Sonny (Chazz Palminteri, auch Drehbuch) erliegt. Als der siebzehnjährige Calogero Sonny in einer Szene fragt, ob es besser sei, geliebt oder gefürchtet zu werden, antwortet ihm Sonny:

„Das ist eine gute Frage. Beides zugleich ist großartig, aber das ist sehr schwer. Aber wenn ich wählen könnte, würde ich lieber gefürchtet. Furcht hält länger als Liebe.“

Wenn Sonny mit solchen schicksalhaften Worten eines der Hauptthemen des Filmes anspricht, dann scheint es, als habe er Niccolò Machiavellis Der Fürst gelesen – und wie aus dem Film hervorgeht, war Lesen tatsächlich Sonnys Hauptbeschäftigung  10 
10) Sonny: „Es gibt nur zwei Dinge, die man im Gefängnis tun kann. Gewichte heben und kämpfen. Ich habe gelesen.“
im Gefängnis –, ein Buch, das Bertrand Russell als ‚Handbuch für Gangster‘  11 
11) Vgl. Lou Marinoff: Bei Sokrates auf der Couch. Philosophie als
Medizin für die Seele. Aus dem Englischen von Axel Monte und Hubert
Pfau. (2. Aufl.) (München:) dtv (2003). S. 301.
bezeichnet hat.

Im 17. Kapitel, das „Von der Grausamkeit und der Milde, und ob es besser ist, geliebt als gefürchtet zu werden oder umgekehrt“  12 
12) Niccolò Machiavelli: Il Principe. Der Fürst. Italienisch/Deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Philipp Rippel. Stuttgart: Reclam (2003). (= Universal-Bibliothek. Nr. 1219.) S. 127.
, handelt, schreibt Machiavelli:

„Daraus ergibt sich die Streitfrage, ob es besser ist, geliebt als gefürchtet zu werden oder umgekehrt. Die Antwort ist, daß man das eine wie das andere sein sollte; da es aber schwerfällt, beides zu vereinigen, ist es viel sicherer, gefürchtet als geliebt zu werden, wenn man schon den Mangel an einem von beiden in Kauf nehmen muß.“  13 
13) Ebd. S. 129. Die Orthographie des Originals wurde beibehalten.

Und er fährt fort:

„Indem ich auf das Thema des Gefürchtet- und des Geliebtwerdens zurückkomme, ziehe ich also die Schlußfolgerung, daß, insofern die Liebe der Menschen ihrem eigenen Gutdünken entspringt und ihre Furcht von dem Willen des Fürsten abhängt, ein kluger Fürst sich nur auf das verlassen darf, worüber er selbst verfügt, und nicht auf das, worüber andere verfügen; er muß sich nur bemühen, dem Haß zu entgehen, wie ich bereits gesagt habe.“  14 

14) Ebd. S. 135. Die Orthographie des Originals wurde beibehalten.

Ist Machiavellis Der Fürst weniger eine Anleitung zur Skrupellosigkeit als vielmehr eine Darstellung, dass Politik und Ethik nicht zwangsläufig miteinander verbunden sein müssen? 15 

15) Vgl. Marinoff: Bei Sokrates auf der Couch. S. 301.
Abgesehen davon jedoch, kann es eben aufschlussreich und reizvoll sein, den Film In den Straßen der Bronx im besonderen und Film im allgemeinen nicht nur als Ort der Unterhaltung, sondern auch als Ort des Denkens zu betrachten und dadurch einen filmischen zu einem philosophischen Text zu machen. Muss Philosophie von vornherein auf philosophische Literatur im engsten Sinne und auf Werke der Hochkultur beschränkt sein? 16 
16) Vgl. hierzu Fredric Jameson: Verdinglichung und Utopie in der Massenkultur. In: Ludwig Nagl (Hrsg.): Filmästhetik. Berlin: Akad.-Verl. Wien: Oldenbourg 1999. (= Wiener Reihe. Bd. 10.) S. 103-139, der Massen- und Hochkultur „[...] als in einem objektiven Zusammenhang stehende und dialektisch aufeinander angewiesene Phänomene, als untrennbare Doppelform jener Aufspaltung versteht, welche für die ästhetische Produktion unter den Bedingungen des Kapitalismus kennzeichnend ist.“ (S. 111) Jameson hält fest: „Dieses Modell scheint mir eine weitaus angemessenere Darstellung der Mechanismen der Manipulation, Ablenkung und Minderwertigkeit, die in der Massenkultur und den Medien zweifellos wirksam sind, zu ermöglichen. Es erlaubt uns insbesondere, Massenkultur nicht als leere Zerstreuung oder ‚bloßes‘ falsches Bewußtsein zu mißkennen, sie vielmehr als umgestaltende Bearbeitung sozialer und politischer Ängste und Phantasien zu begreifen, die folglich im massenkulturellen Text wirkungsvoll präsent sein müssen, um dann ‚gesteuert‘ oder verdrängt werden zu können.“ (S. 126) Vgl. in diesem Zusammenhang auch Jamesons Interpretation von Francis Ford Coppolas Der Pate Teil I und II (1972 und 1974); S. 133-139.
Ist nicht vieles mindestens einen zweiten Blick wert?

Zugegeben, ein philosophischer Subtext mag vielleicht nicht immer so eindeutig identifizierbar sein wie im obigen Beispiel, in dem schließlich alles in der ‚Familie‘ bleibt, und selbst die Tatsache, dass Texte und damit auch Filmtexte  17 
17) Vgl. Lothar Mikos: Film- und Fernsehanalyse. (Konstanz:) UVK (2003). (= UTB. 2415.) S. 14: „Wenn im Folgenden manchmal von Filmen und Fernsehsendungen als Texten die Rede ist, so ist damit nicht gemeint, dass ihre Struktur mit der von geschriebenen Texten identisch ist. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass in der Folge der poststrukturalistischen Debatte in den Geisteswissenschaften Kulturprodukte und -objekte generell als ›Texte‹ bezeichnet werden, die produziert und rezipiert werden.“
auf ihre wesentliche Art und Weise andere Texte widerspiegeln können, überrascht nicht wirklich. Doch hier geht es nicht primär um Originalität, sondern darum, zum einen die in Filmen enthaltene Philosophie, die auch in Form entsprechender Subtexte durchscheinen kann, gemeinsam zu entdecken, und zum andern, durch das Hinterfragen der gesamten  18 
18) Siehe Anm. 7 dieses Abschnitts.
narrativen Struktur von Filmen philosophieren zu lernen. Hierbei kann ich Ihnen meine Unterstützung anbieten.

„In Wirklichkeit will ich wahrscheinlich gar nicht zu glücklich oder zufrieden sein. Denn, was wäre dann? Eigentlich gefällt mir dieser Zustand, diese Suche. Genau darin liegt der Spaß.
Je schlechter es einem geht, umso mehr gibt es, worauf man sich freuen kann. Wer hätte das gedacht? Es geht mir richtig gut, ich hab’s bloß nicht gemerkt.“

(Ally in Ally McBeal: Am Anfang war das Feuer)



Anderton: „Ich habe keine alternative Zukunft.“
Agatha: „Aber du hast immer noch eine Wahl.“
(Steven Spielberg: Minority Report)



Morpheus: „Glaubst du an das Schicksal, Neo?“
Neo: „Nein.“
Morpheus: „Warum nicht?“
Neo: „Mir missfällt der Gedanke, mein Leben nicht unter Kontrolle zu haben.“
(Andy und Larry Wachowski: Matrix)



Agent Smith: „Sie können nicht gewinnen. Es ist zwecklos weiterzukämpfen. Wieso, Mr. Anderson, wieso, wieso bestehen sie d’rauf?“
Neo: „Weil ich mich so entschieden habe.“
(Andy und Larry Wachowski: Matrix Revolutions)



Architekt: „Du hast ein gefährliches Spiel gespielt.“
Orakel: „Das ist Veränderung immer.“
(Andy und Larry Wachowski: Matrix Revolutions)



„Mein Auge schloß er, aber offen blieb
Der Sitz der Phantasie, mein innrer Blick,

[...]
(John Milton: Das verlorene Paradies)



„Dann läßt Du ungern nicht dies Paradies,
Du trägst in Dir ja ein viel seligers.“

(ebd.)



 

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